Geschlecht und Erinnerung: Weiblichkeitsbilder in der Erinnerung an das Dritte Reich

Geschlecht und Erinnerung: Weiblichkeitsbilder in der Erinnerung an das Dritte Reich

Organisatoren
Verein Gedenkdienst und die Österreichische HochschülerInnenschaft an der Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
21.11.2008 - 22.11.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Johann Kirchknopf, Verein Gedenkdienst, Wien; Linda Erker, Verein Gedenkdienst, Wien

GEDENKDIENST, die Veranstalterin der Tagung, ist eine politisch unabhängige, überkonfessionelle Organisation, die sich mit den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen auseinandersetzt. Seit 1992 entsendet der Verein Freiwillige - Männer und Frauen - in Länder, in denen die Nazis und ihre Helfer/innen Verbrechen begingen, oder in denen Überlebende der Mordmaschinerie heute leben.

Die jungen Österreicher/innen betreuen während ihres einjährigen Dienstes Jugendliche, pflegen alte Menschen oder arbeiten in Archiven und Museen. Männern wird ihr Einsatz von der Republik Österreich als Zivilersatzdienst weitestgehend finanziert, Frauen haben die Möglichkeit, ihren Dienst im Rahmen des European Voluntary Service (EVS) abzuleisten, die Kosten übernimmt in diesem Fall die Europäische Union; oder ihnen wird der Dienst aus Mitteln des neu geschaffenen Geschwister-Mezei-Fonds gefördert.

Seit den 1980er-Jahren widmet sich die Geschichtswissenschaft geschlechtsspezifischen Untersuchungen der Zeit des Nationalsozialismus. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse über die Geschlechterverhältnisse werden in der Öffentlichkeit jedoch kaum präsentiert, noch weniger diskutiert. Der Verein GEDENKDIENST und die Österreichische HochschülerInnenschaft an der Universität Wien haben sich daher vorgenommen, das Gedenkjahr 2008 zum Anlass zu nehmen, um im Rahmen einer internationalen wissenschaftlichen Tagung der Öffentlichkeit einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu vermitteln und den Blick für geschlechterspezifische Disparitäten in der Erinnerungskultur zu schärfen. Grund dafür: in der österreichischen Erinnerungskultur sind gröbere geschlechterspezifische Verwerfungen und Disparitäten festzustellen. Angesichts der Tatsache, dass nationalsozialistische Geschlechterkonzepte oder stereotype Vorstellungen unseren Alltag heute noch beeinflussen, erschien dem Verein eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik umso notwendiger.

„Den Opfern für ein freies Österreich 1934-1945“ ist jenes Denkmal der Stadt Wien am Zentralfriedhof gewidmet, welches als Motiv für die Tagung gewählt wurde. Bereits vor der feierlichen Enthüllung durch Bürgermeister Theodor Körner am 1. November 1948 und selbstverständlich auch danach gab es eine rege Debatte um dieses Denkmal, insbesondere um seine Widmung. Ein Aspekt, der diesem Denkmal ebenfalls anhaftet, blieb jedoch in der öffentlichen Auseinandersetzung unbeachtet, nämlich die Geschlechterbilder, welche dieses Denkmal vermittelt. In den Pressemeldungen der Rathauskorrespondenz lesen wir am Tag der Denkmalenthüllung: „Die drei Hauptphasen der Tragödie unserer Zeit werden durch drei Statuen versinnbildlicht. (In der Tagungsgrafik sind nur zwei abgebildet.) Auf der ersten Stufe steht eine steinerne Frauengestalt, gebeugt und verhüllt: Die Trauer. (Diese ist im Vordergrund unserer Grafik zu sehen.) Sie steht am Beginn der Unterdrückung. Doch als der Widerstand im Laufe der Jahre wächst und sich trotz härtester Mittel der Staatsgewalt organisiert, steht eine zweite Figur, die Klage, mit erhobenem Haupt und emporgereckter Hand auch anklagend, auf den Stufen. (Diese Figur ist in unserer Grafik nicht abgebildet.) Dort aber, wo die Kerkermauern plötzlich zerbrechen, steht sieghaft die große Bronzestatue eines Mannes, des Befreiten, der in das Licht eines neuen Lebens tritt.“1 Wäre nicht „die Befreiung“ auch weiblich? Die Stadien vor der Befreiung werden durch allegorische Darstellungen des jeweiligen Zustandes versinnbildlicht, am Ende aber steht DER Befreite und nicht DIE Befreiung oder DIE Freiheit.

Als Organisator/innen dieser Tagung sahen wir es als unseren gesellschaftspolitischen Auftrag, diese Fragen in der Öffentlichkeit zu stellen und eine Debatte über Missstände anzuregen, deren Ursprung insbesondere in nicht aufgearbeiteten Aspekten der NS-Vergangenheit unserer Gesellschaft zu verorten ist. Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Ihre Deutung und unsere Haltung ihr gegenüber liegen hingegen in unserer Verantwortung. „(…) was zur Disposition stand und steht, ist nicht die Vergangenheit selbst, sondern sind die ethisch-moralischen Grundlagen gegenwärtigen politischen Handelns.“2 Auch SIGRID JACOBEIT (Berlin), die langjährige Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, wies im Eröffnungsreferat der Tagung darauf hin, dass Erinnerungskultur immer auch Konfliktkultur sei. Hierin liegt die gegenwartsbezogene Relevanz der Thematik der Tagung. Eine Debatte über die Geschlechterverhältnisse unserer heutigen Gesellschaft könne nur dann sinnvoll und zukunftsträchtig geführt werden, wenn uns bewusst ist, dass die Geschichte der Austragungsort dieses Konfliktes ist.

Die Umrisse dieses „Schlachtfeldes“ skizzierte Sigrid Jacobeit im Zuge ihrer keynote-lecture, indem sie einen Überblick nicht nur über die Forschung, sondern auch über den aktuellen Stand der Arbeit an den verschiedensten Gedenkstätten gab. Ausgehend von ihrem eigenen Werdegang und ihrem Weg hinein in die Thematik resümierte sie die Fortschritte, die auf dem Feld der Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus während der letzten Jahrzehnte erzielt wurden. Dabei warf sie den Blick nicht nur auf Ergebnisse universitärer Forschung, sondern brachte auch die Entwicklungen auf dem Feld der praktischen Umsetzung, sprich im Rahmen der Gedenkstättenarbeit, ins Treffen. Sie hob hervor, dass diese Arbeit auch einem besonders praktischen Ziel diene, nämlich der Herbeiführung geschlechterspezifischer Chancengleichheit - von der wir allerdings noch sehr weit entfernt seien – denn auf diese Weise flössen Vorstellungen von „Mann“ und „Frau“ in die Geschichtsbetrachtung mit ein. Es würde den Betrachter/innen sogar klar werden, dass die Kategorie Geschlecht selbst das Produkt kollektiver Erinnerung sei. Darin bestätigte Sigrid Jacobeit den praktischen Nutzen der Auseinandersetzung mit einem derartigen Thema, den auch die Organisator/innen dieser Tagung anstreben. Sie machte in ihrem Vortrag aber auch klar, dass es keinen Grund gebe, sich auf den Errungenschaften der Forschung und der praktischen Arbeit auszuruhen, denn es gebe noch eine Reihe von unbearbeiteten Forschungsfeldern, ebenso wie viele Agenden der Gedenkstättenarbeit.

Den zweiten Höhepunkt der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, die von JOHANNA GEHMACHER (Wien) moderiert wurde und zu reger Publikumsbeteiligung führte. Den Zuhörer/innen wurde ein weites Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen mit dieser Thematik geboten, zumal die Teilnehmer/innen aus verschiedensten Disziplinen kamen. Neben der Historikerin BRIGITTE BAILER-GALANDA (Wien) äußerte sich auch RUTH BECKERMANN (Wien) über ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Zeitzeugen/innen und mit der Einbindung von Zeitzeugeninterviews in ihren Filmen, in denen es auch darum geht, Erinnerungen zu verarbeiten und zu dokumentieren und dabei gerade auch Geschlechterrollen auf die Spur zu kommen. TEREZIJA STOISITS (Wien) war an der Gesetzgebung zur Opferfürsorge in Österreich involviert, die keineswegs als geschlechterneutral bezeichnet werden könne, wie ihr vor allem Brigitte Bailer-Galanda zustimmte. WOLFGANG WIPPERMANN (Berlin), der ebenfalls an der Diskussion hätte teilnehmen wollen, musste sich aus gesundheitlichen Gründen leider entschuldigen.

ELIZABETH HARVEY (Nottingham) gab in ihrem Vortrag am zweiten Tag der Veranstaltung einen Einblick in ihre gegenwärtige Erforschung von NS-Frauenorganisationen, innerhalb derer sich Frauen für die „Volksgemeinschaft“ bewähren mussten. Sie kontrastierte dabei ideologische Konzepte mit sehr persönlichen Lebenserfahrungen konkreter Frauen. Denn diejenigen Frauen, die in der „Volksgemeinschaft“ willkommen waren, hatten sich in dieser zu bewähren. Aber nicht jede strebte dieselben Ziele an, die die Propaganda vorschrieb. Durch ein hoch entwickeltes und zentral geführtes System des Ausschlusses wollte der NS-Staat Kontrolle über möglichst alle Teile seiner Bevölkerung erlangen, so auch über die verschiedensten Vereinigungen von Frauen, die allesamt vom Staat geführt wurden, denn alle nichtstaatlichen Vereinigungen waren verboten. Neben den Zielen des Staates mussten die Individuen zurückstehen. Elizabeth Harvey versuchte in ihrer Untersuchung, diese wieder zu Wort kommen zu lassen, soweit dies die Quellenlage erlaubte.

GABRIELE CZARNOWSKI (Graz) zeigte in ihrem Vortrag die Verflechtung der Kategorien „Rasse“ und „Geschlecht“ innerhalb nationalsozialistischer Eugenikprogramme anhand konkreter Beispiele wie etwa der Untersuchung der „Ehetauglichkeit“ auf. Während Kranken- und Judenmord der „Reinigung des Volkskörpers“ diente, sollte das Eugenikprogramm etwaigen „Verunreinigungen“ desselben vorbeugen. Die Umsetzung dieses Gedankenguts brachte unter anderem eine rigorose Verwaltungsstruktur hervor, die das Ineinander von Sozial- und „Rassehygiene“ administrierte. Diese familienpolitischen Maßnahmen gingen Hand in Hand mit der Konstruktion ganz spezifischer Geschlechterbilder, was Auswirkungen in der Arbeitswelt aber auch im Strafrecht hatte, wie etwa die rigorose Bestrafung von „Geschlechtsverkehrsverbrechen“ zeigt. Das Novum an der NS-Familienpolitik war, dass nicht Kranke, sondern Gesunde sich untersuchen lassen mussten. Die meisten Betroffenen erinnerten sich aber nicht an diese Untersuchungen, ebenso wenig finden sich diese Untersuchungen im kollektiven Gedächtnis.

IRENE LEITNER (Alkoven) sprach im Anschluss über ihre Tätigkeit als Leiterin des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim und über ihre Erfahrungen in der Vermittlung geschlechterspezifischer Geschichte im Zuge ihrer gedenkstättenpädagogischen Arbeit. Ein zentraler Aspekt, dem sie großen Raum widmete, war auch die Aufarbeitung der Verbrechen des in Hartheim stationierten Personals, wobei sie durchweg auf eine geschlechterspezifische Perspektive bedacht war.

Zwei grundverschiedene Perspektiven aus der nicht-universitären Forschung boten die Wissenschaftlerinnen Helga Amesberger und Claudia Kuretsidis-Haider. HELGA AMESBERGER (Wien) demonstrierte in ihrem Vortrag mit welcher - zumeist unbewussten - Wirkmacht Geschlechterkonzepte unser Denken beeinflussen. Dabei analysierte sie sowohl die Perspektive der Interviewten, als auch die der Interviewer/innen anhand vom Konzept des „doing-gender“, also der Wiederherstellung von „Geschlecht“ im Alltag. Sie zeigte auf, dass Frauen in der Regel andere Fragen gestellt werden als Männern und dass die Interviewten ihrerseits Geschlechterstereotype in ihren Antworten reproduzieren. Es gelte daher, dass auch Forscher/innen bei ihrer Arbeit immer darüber reflektieren, wie sie im Zuge ihrer Arbeit Geschlecht produzieren.

CLAUDIA KURETSIDIS-HAIDER (Wien) kommt aus einer gänzlich anderen Richtung. Ihre Perspektive ist die der Rechtsgeschichte und ihr Resümee lautete: „Von einer gleich-berechtigten Sicht der strafrechtlichen Schuld in den Nachkriegsprozessen kann nicht die Rede sein.“ In den Akten lassen sich Femininitätsstereotype schon seitens des männlichen Gerichtspersonals gegenüber Angeklagten wie auch Zeuginnen erkennen.

Um das Bild geschlechterspezifischer Erinnerungskultur abzurunden, sprachen zum Abschluss der Tagung SYLVIA KÖCHL (Wien) und KERSTIN LERCHER (Wien). Sie gaben Einblick in die Tätigkeit der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Die überlebenden Frauen aus Ravensbrück waren die ersten, die eine Lagergemeinschaft gegründet haben. Die Vortragenden legten den Fokus ihres Beitrages auf geschlechterspezifische Aspekte und Problemstellungen, denn die Diskriminierung von Frauen war seit ihrem Anfang das größte Problem der Lagergemeinschaft. Aus diesem Grund war es der Lagergemeinschaft auch schon immer ein Anliegen, geschlechtergeschichtlich orientierte Forschung zu unterstützen.

Das Ziel der Veranstalter/innen war es, eine möglichst breite Diskussion über das Thema anzuregen. Mit einer durschnittlichen Teilnehmer/innenzahl von 60 bis 80 Personen war die Tagung sehr gut besucht und es wurde angeregt diskutiert. Um die hervorragenden Ergebnisse der Tagung darüber hinaus an eine breite Öffentlichkeit heranzutragen, ist geplant, die Vorträge im Laufe dieses Jahres in der Zeitung „GEDENKDIENST“ abzudrucken, welche einen noch weiteren Interessentenkreis erreicht, als es durch die Tagung alleine möglich wäre. Es kann somit sichergestellt werden, dass die Diskussion, die bei der Tagung begonnen hat in einem größeren Rahmen weitergeführt werden kann.

Konferenzübersicht:

Einheit 1: Geschlechterstereotype im kollektiven Gedächtnis zum Nationalsozialimus

SIGRID JACOBEIT: „Täter, Opfer, Heldinnen – im kollektiven Gedächtnis zum Nationalsozialismus“

Podiumsdiskussion mit JOHANNA GEHMACHER (Moderation), BRIGITTE BAILER-GALANDA, RUTH BECKERMANN, TEREZIJA STOISITS und WOLFGANG WIPPERMANN zum Thema: „Nationalsozialismus, Gedächtnis, Geschlecht. Zur Dis/Kontinuität nationalsozialistischer Geschlechterbilder“

Einheit 2: Frauenbilder in der „Volksgemeinschaft“

ELIZABETH HARVEY: „Organisierte Gemeinschaft: Vergnügen, Konformität, Zwang“

GABRIELE CZARNOWSKI: „Familienpolitik als Geschlechterpolitik: ‚Eheeignung’ und ‚Ehetauglichkeit’ im Nationalsozialismus“

IRENE LEITNER: „Frauen im Dienst der NS-Euthanasie – Beispiel Tötungsanstalt Hartheim“

Einheit 3: Kontinuitäten und Brüche in den Frauenbildern nach 1945

HELGA AMESBERGER: „Über die Produktion von Geschlecht in lebensgeschichtlichen Interviews“

CLAUDIA KURETSIDIS-HAIDER: „Die Rolle von Frauen in den Nachkriegsprozessen“

SYLVIA KÖCHL, KERSTIN LERCHER: „Geschlecht und Erinnerung. Frauen/Feministinnen in der Forschung zu Überlebenden des KZ Ravensbrück im Kontext der Zusammenarbeit in der Lagergemeinschaft“

WOLFGANG WIPPERMANN: „Heim und Mutterkreuz. Zur Aktualität faschistischer Frauenbilder“ (der Vortrag musste abgesagt werden)

Mitarbeiter/innen und Verantwortliche der Veranstaltung waren: LINDA ERKER, ULRIKE FLESCHHUT, DIETER HECHT, TILL HILMAR, ELDINA JAGANJAC, MATTHIAS KAL-TENBRUNNER, KLAUS KIENESBERGER, JOHANN KIRCHKNOPF, CHRISTIAN KLÖSCH, MATTHIAS KOPP, PETER LARNDORFER, LUKAS MEIßEL, MAGDALENA NEUMÜLLER, THOMAS RENNERT, WOLFGANG SCHELLENBACHER, SUSANNE ÜBLACKNER.

Anmerkungen:
1 Gina Galeta, 1.11.1948. Die Enthüllung des Opferdenkmals auf dem Zentralfriedhof, <http://www.wien.gv.at/ma53/45jahre/1948/1148.htm> (07.11.2008). Die Ergänzungen in runden Klammern stammen vom Verfasser dieses Berichts.
2 Heidemarie Uhl, Die Transformation des „österreichischen Gedächtnisses“ in der Erinnerungskultur der Zweiten Republik, in: Geschichte und Region 13, H.2 (2004) 25.